Veröffentlicht von Prof. Dr. jur. Burkhard Oexmann am 27.01.2015

Strafrechtliche Verantwortung des Tierarztes bei von ihm erkannter Tierschutzrelevanz

I. Rechtliche Ausgangssituation
Sämtliche Berufsordnungen der Landestierärztekammern in Deutschland legen dem Tierarzt ein Schweigegebot auf. Beispielhaft § 5 Abs. 1 der Berufsordnung der Tierärztekammer Westfalen-Lippe: „Die/der Tierärztin/Tierarzt hat über alle Tatsachen Schweigen zu bewahren, die ihr/ihm bei der Ausübung ihres/seines Berufes bekannt werden, soweit berechtigte Belange dies erfordern. Die Schweigepflicht bezieht sich nur auf solche Tatsachen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der tierärztlichen Tätigkeit stehen.“ Diese berufsrechtliche Norm korrespondiert mit einer strafrechtlichen. Nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuches (StGB) wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis offenbart, das ihm als Tierarzt anvertraut worden oder sonst bekannt geworden ist.

II. Ausnahmeregelung mit Verunsicherungswirkung?
§ 5 Abs. 3 der Berufsordnung der Tierärztekammer Westfalen-Lippe regelt: „Die Schweigepflicht besteht nicht, wenn öffentliche Belange die Bekanntgabe ihrer/seiner Feststellungen erforderlich machen.“

III. Zivilrechtlicher Pragmatismus
Die Ziviljuristen haben lange Zeit darüber gestritten, ob die Abtretung eines Honoraranspruchs durch den Tierarzt etwa an ein Factoring-Unternehmen rechtswirksam sei. Hintergrund: Nach § 134 BGB ist ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. Da den Tierarzt, wie oben aufgezeichnet, berufsrechtlich wie strafrechtlich ein Schweigebot trifft, wurde zunächst die Auffassung vertreten, dass die Abtretung des Honoraranspruchs des Tierarztes gegen den Tierhalter an ein Factoring-Unternehmen gegen ein gesetzliches Verbot verstoße und mithin nach § 134 BGB nichtig sei. Diese Auffassung wurde später aufgegeben. Tierärzte dürfen also, ohne gegen das Standes- und Strafrecht zu verstoßen, ihre Honorarforderung an Dritte abtreten, etwa zum Zwecke der professionellen Einziehung.

IV. Differenzierte Betrachtung
Der angesehene Kommentar von Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 29. Auflage, München 2013, § 203 Rn. 35 befasst sich mit der Strafbarkeit des Tierarztes nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB und führt aus: Was für den Arzt ein Geheimnis des Patienten sei, brauche für den Tierarzt kein solches des Tierhalters oder Auftraggebers zu sein (z.B. eine Tatsache oder eine Art der Erkrankung oder der Behandlung). Aufgenommen worden seien die Tierärzte in den potentiellen Täterkreis nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB), weil gewisse Krankheiten vom Tier auf den Menschen und umgekehrt übertragbar seien (Stichwort Zoonosen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes) und der Tierarzt oft neben oder gar vor dem Arzt von entsprechenden Erkrankungen bei Menschen erfahre (so auch das Urteil der 4. Kammer des Landgerichts Dortmund vom 09.02.2006 zu 4 S 176/05, Abdruck in NJW-RR 2006, 779/978). Denkbar seien aber auch weitere Fälle, so wenn der Veterinär vom Eigentümer zur Behandlung eines von diesem zuvor schwer misshandelten Tieres gerufen werde (Tatsache der Misshandlung als Geheimnis des Eigentümers) („nemo tenetur se accusare“).

V. Standesrechtlicher Ausnahmefall
Wie oben beschrieben, kennen die Berufsordnungen der Landestierärztekammer Ausnahmen von der Schweigepflicht (beispielhaft geregelt in § 5 Abs. 3 der Berufsordnung der Tierärztekammer Westfalen-Lippe dahin, dass die Schweigepflicht nicht besteht, „wenn öffentliche Belange die Bekanntgabe ihrer/seiner Feststellungen erforderlich machen.“ Hier findet also ein Paradigmenwechsel vom strafrechtlich sanktionierten Zivilrecht auf das öffentlich-rechtliche Normensystem statt. Damit ist der Blick eröffnet auf das Tiergesundheitsgesetz, das im Jahre 2014 das alte Tierseuchengesetz abgelöst hat. § 4 Abs. 3 S. 1 regelt in freien Worten: Bricht eine aufgrund einer Rechtsverordnung zum Tiergesundheitsgesetz anzeigepflichtige Tierseuche aus oder zeigen sich Erscheinungen, die den Ausbruch einer solchen Tierseuche befürchten lassen, sind zur unverzüglichen Anzeige auch die Tierärzte verpflichtet. Die Verletzung dieser Meldepflicht stellt nach § 32 Abs. 2 Nr. 1 Tiergesundheitsgesetz eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldbuße bis zu 30.000,00 € geahndet werden kann.

VI. Irrelevanz des Tiergesundheitsgesetzes für § 203 StGB
Im Strafrecht handelt grundsätzlich jeder Täter rechtswidrig, der den normierten Straftatbestand, hier also den der Schweigepflicht nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, verletzt. Eine restriktiv anzuwendende Ausnahme davon bietet § 32 StGB. Danach handelt nicht rechtswidrig, wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist. Notwehr wird insoweit als Verteidigung definiert, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. Taucht eine Tierseuche auf, haben hier allenfalls Zoonosen gewirkt, nicht aber Menschen, die einen rechtswidrigen Angriff auf Rechtsgüter anderer Menschen versuchen. Außerdem: Niemand ist zur Notwehr/Nothilfe gezwungen. Erst wenn es zur Rechtsgutverletzung (etwa Gesundheitsbeschädigung durch einen Täter in vollendeter Form) gekommen ist, gilt das Eingriffsrecht unter dem Gesichtspunkt der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB.

VII. Thesen
These 1:
Nach § 17 Nr. 2 b) TierSchG macht sich strafbar, wer einem Wirbeltier länger anhaltende oder sich wiederholende Schmerzen oder Leiden zufügt. Täter ist nicht nur derjenige, der den Straftatbestand durch positives Tun erfüllt; auch ein Unterlassen bei Garantenstellung des Tierhalters (Halter oder Eigentümer) kann den Staatsanwalt auf den Plan rufen.

These 2: Nach § 1 Abs. 1 der BTierärzteO ist der Tierarzt berufen, Leiden und Krankheiten der Tiere zu verhüten, zu lindern und zu heilen, …, den Menschen vor Gefahren und Schädigungen durch Tierkrankheiten … zu schützen. Damit kommt dem praktizierenden Tierarzt die kardinale tierschützende Allkompetenz zu.

These 3: Nach § 16 a S. 1 Nr. 3 TierSchG kann die zuständige Behörde (staatliche Veterinärverwaltung) demjenigen, der von ihm gehaltenen oder betreuten Tieren erhebliche oder länger anhaltende Schmerzen oder Leider oder erhebliche Schäden zugefügt hat, das Halten oder Betreuen von Tieren untersagen. Rechtsprechung und juristische Fachliteratur gehen dahin, dass die aus dieser Vorschrift abgeleitete Garantenstellung der Amtstierärzte nur dann eine strafbare Handlung (durch Unterlassen) darstellt, wenn das Handlungsermessen der Amtstierärzte einer „Ermessungsschrumpfung auf Null“ gleichkommt.

These 4: Stellt der praktizierende (niedergelassene) Tierarzt einen aus seiner Sicht begangenen Verstoß gegen § 17 Nr. 2 b) TierSchG fest, kommt eine Handlungspflicht nur dann in Betracht, wenn auch ihn eine Garantenstellung trifft. Da er aber nicht unter § 16 a S. 2 Nr. 3 TierSchG subsumiert werden kann, kann allenfalls die allgemeine Garantenstellung nach § 13 Strafgesetzbuch (StGB) greifen. Indes gibt es bis heute weder ein rechtskräftiges Urteil noch eine ernstzunehmende Stimme in der juristischen Fachliteratur, die dem Tierarzt eine gesetzliche Garantenpflicht auferlegt.

These 5: Über jeder Tätigkeit des Tierarztes steht die uneingeschränkte berufliche Schweigepflicht, wie sie sich aus § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB ergibt. Es existiert derzeit weder europa- noch nationalrechtlich eine Norm, die diese Schweigepflicht total/ partiell/temporär durchbricht.

These 6: In extremen Ausnahmefällen könnte man daran denken, den Tierarzt dann zu verpflichten, seine strafrechtlich sanktionierte Schweigepflicht zu durchbrechen, wenn in größerem Umfang von Tier und Mensch Schaden abzuwenden ist und der Tierarzt durch sein Schweigen dazu beitragen würde, dass der drohende Großschaden eintritt oder sich ein bereits eingetretener relevanter Schaden noch vergrößert. Zwar läge keine Notwehr oder Nothilfe im Sinne des § 32 StGB vor; man könnte aber unter dem Aspekt der unterlassenen Hilfeleistung beim Praktiker einen Zielkonflikt konstruieren, der jedenfalls bei der Abwägung der Rechtsgüter die Rechtswidrigkeit eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die ärztliche Schweigepflicht entfallen lässt. § 323 c StGB lautet nämlich: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“