Veröffentlicht von Prof. Dr. jur. Burkhard Oexmann am 06.02.2018

Die intraligamentäre Anästhesie

Einleitung
Schmerz und Schmerzausschaltung sind in der Zahnheilkunde von zentraler Bedeutung. Schmerz wird gewöhnlich über Schmerzrezeptoren, aber auch durch Läsionen schmerzleitender Nervenfasern ausgelöst. Für das individuelle Schmerzerleben und die Bewertung des Schmerzes spielen kognitive, affektiv-emotionale und psychosoziale Gesichtspunkte eine Rolle. Zu den mit Schmerzen einhergehenden zahnärztlichen Maßnahmen gehören insbesondere operative Eingriffe, Zahnextraktionen, Inzisionen, Exzisionen, Präparationen von Kavitäten und Kronenfeilern, Trepanationen vitaler Pulpen und parodontalchirurgischer Eingriffe.


Zahnmedizinische Schmerzausschaltung in der vertragszahnärztlichen Versorgung
Die „Richtlinie“ des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinie)1 regelt die zahnärztliche Schmerzausschaltung restriktiv. Bei der konservativen Behandlung ist die im Zusammenhang mit der Herstellung und Eingliederung von Einlagenfüllungen erbrachte Anästhesie nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung. Für die chirurgische Behandlung2 gilt: Im Oberkiefer wird der Schmerz durch Infiltrationsanästhesie ausgeschaltet, bei größeren Eingriffen oder bei entzündlichen Prozessen sowie bei der chirurgischen Behandlung im Unterkiefer durch Leitungsanästhesie. Die Infiltrationsanästhesie ist neben der Leistungsanästhesie in der Regel nicht angezeigt. Das gilt nicht bei der Parodontalbehandlung3.


Beteiligung eines Anästhesisten bei zahnmedizinischen Eingriffen
Deutsch4 hat bei der Frage der Notwendigkeit der Beteiligung eines Anästhesisten bei geringgefährlichen medizinischen Eingriffen darauf hingewiesen, dass entsprechende Einzelnormen (Regeln) nicht existierten und daher der Sorgfaltsmaßstab nach den Vorschriften des allgemeinen Zivilrechts hinterfragt werden müsse. Es sei zwischen der äußeren und inneren Sorgfalt zu unterscheiden, dabei spiele ein etwaiges Übernahmeverschulden eine Rolle. Deutsch a.a.O. unterscheidet bei den sachlichen Voraussetzungen der Sorgfalt zwischen der normgesetzten und der verkehrsabgeleiteten. Biermann/Bock5 kritisieren Deutsch a.a.O. dahin, er unterscheide nicht zwischen den verschiedenen Stufen der Sedierung und der Allgemeinanästhesie. Unter Berücksichtigung der §§ 1 und 5 HeilPrG, 1 Abs. 3 ZHG dürfe ein Zahnarzt keine Narkose ausführen. Dies erkläre sich auch dadurch, dass es sich bei einer Narkose um einen potentiell lebensbedrohlichen Eingriff handele, dessen Durchführung höchste Sorgfalt erfordere, was nur durch entsprechende Approbation als Anästhesist gewährleistet sei. Diese Abgrenzung entscheide über den Sorgfaltsmaßstab in Haftungsfällen. Ergebnis: Ein Zahnarzt dürfe nie in eigener Verantwortung eine Allgemeinanästhesie durchführen.


Lokalanästhesie in der Zahnmedizin
Damit ist der Zahnarzt auf fünf lokalanästhetische Methoden beschränkt: Oberflächenanästhesie, Infiltrationsanästhesie, Leitungsanästhesie, intraligamentäre Anästhesie sowie intraossäre Anästhesie. Die Oberflächenanästhesie betäubt die Mundschleimhaut. Mit der Infiltrationsanästhesie werden einzelne Zähne sowie umgebende Knochen und Weichgewebe analgesiert. Diese Methode wird regelmäßig im Oberkiefer angewandt. Im Unterkiefer dominiert die Leitungsanästhesie, bei der das Lokalanästhetikum möglichst nahe an den Nervenstamm eingebracht und somit das gesamte Versorgungsgebiet dieses Nerven betäubt wird. Bei der intraligamentären Anästhesie wird die Lokalanästhesielösung direkt an die Wurzel des zu behandelnden Zahnes in den Zahnhalteapparat eingebracht. Nur der Zahn wird analgesiert, nicht das ihn umgebende Weichgewebe. Bei der intraossären Anästhesie wird das Lokalanästhetikum zwischen den Zahnwurzeln direkt in den Knochen gespritzt. Da hier ein erhebliches Infektionsrisiko besteht, handelt es sich um eine Methode der zweiten Wahl.


Rechtsprechung
Die zahnmedizinische Lokalanästhesie befasst immer wieder die Gerichte. So verlangt das OLG Karlsruhe6 eine Aufklärung darüber, dass es im Zusammenhang mit der Extraktion eines Weisheitszahns zu einer Nervenschädigung mit der Folge des Ausfalls der Geschmackswahrnehmung und der Sensibilität kommen könne, und zwar auch in der Version der Möglichkeit eines dauerhaften, also nicht nur vorübergehenden Schadens. Ähnlich streng der Arzthaftungssenat des OLG Köln7 ´: Stehe einer allein geeigneten wahrscheinlichen Schadensursache eine theoretische Schädigungsmöglichkeit gegenüber, sei es keineswegs überwiegend (kausalrechtlich) wahrscheinlich, sondern ebenfalls eher theoretisch und unwahrscheinlich, dass beide denkbaren Ursachen bei der Entstehung eines Schadens zusammengewirkt hätten. In der implantologischen Zahnmedizin stellt sich unter dem Aspekt des individuellen Schmerzerlebens und der subjektiven Bewertung des Schmerzes die Frage eines Eingriffs unter stationären Bedingungen. Der schon erwähnte Arzthaftungssenat des OLG Köln8 meint, dass für einen in der Implantologie erfahrenen Zahnarzt ein geplanter Eingriff mit neun Implantaten in Verbindung mit Bone-Splitting und augmentativen Maßnahmen in Lokalanästhesie keine ungewöhnliche Herausforderung darstelle. Daher bestehe unter der Annahme, dass bei den Patienten keine Vorerkrankungen vorgelegen hätten, keine Indikation für die Durchführung des Eingriffs unter stationären Bedingungen. Ein Übernahmeverschulden auf Seiten des Zahnarztes scheide daher aus. Im Fall des OLG München klagte die Patientin über Nervenläsionen, die sie für typisch hielt und den Zahnmediziner dazu hätten veranlassen müssen, ihre Geschmacksfasern zu überprüfen. Diese Rügen hielt das OLG München9 a.a.O. für nicht zielführend. Nach den Ausführungen des Sachverständigen komme es aus anatomischen Gründen bei einzelnen Injektionen zu keiner dauerhaften Verletzung der Faseranteile des N. lingualis oder des N. ossopharyngeus. Diese verliefen von dem in Betracht zu ziehenden Injektionsgebiet weit entfernt. Eine Beeinträchtigung des Geschmackssinns für wenige Stunden nach Diffundieren des Lokalanästhetikums sei möglich, nicht aber ein dauerhafter Ausfall.


Intraligamentäre Anästhesie
In einer neueren Entscheidung10 hat sich einer der beiden Arzthaftungssenate des OLG Hamm mit der Pflicht des Zahnarztes zur Aufklärung über Behandlungsalternativen bei der Leitungsanästhesie befasst (rechtlicher Ansatz: §§ 280, 630d, 630e, 823, 253 BGB). Der Leitsatz dieser Entscheidung lautet: „Ein Zahnarzt kann bei einer Behandlung mittels Infiltrations- oder Leitungsanästhesie haften, wenn er den Patienten über die als echte Alternative mögliche Behandlung mittels intraligamentärer Anästhesie nicht aufgeklärt hat und die vom Patienten für den zahnärztlichen Eingriff erteilte Einwilligung deswegen unwirksam gewesen ist.“ Sachverständig beraten begründete das Gericht: Die Vorteile der intraligamentären Anästhesie lägen insbesondere in der Unmöglichkeit von Nervenverletzungen. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass nur geringe Mengen an Anästhesieflüssigkeit notwendig seien, sich Risikopatienten problemlos behandeln ließen, ein fehlender oder nur geringer Einstiegschmerz entstehe, die Wirkung alsbald eintrete, wegen der Versorgung des betroffenen Zahnes das umliegende Gewebe normal empfindlich bleibe, kein Taubheitsgefühl in Wange, Zunge und Lippe eintrete und das Empfindungsvermögen schon nach ca. 30 bis 45 min wieder uneingeschränkt vorhanden sei. Nachteil sei lediglich, dass eine allerdings vermeidbare Aufbissempfindlichkeit des betäubten Zahnes bis zu 24 h bestehen könnte, weiterhin, dass es zu kleinen Schleimhautnekrosen und zu Nekrosen der Interdentalpapille kommen könne.


Patientenaufklärung
Schon vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung des Behandlungsvertrages (§§ 630a ff. BGB) war der Zahnarzt gehalten, etwa bei der konservativen Zahnbehandlung über die Risiken der Schmerzausschaltung qua Lokalanästhesie aufzuklären. Zu den Risiken einer Anästhesie zählen die Unverträglichkeit des Anästhetikums, Abtrennung der Injektionsnadel mit der Gefahr der Aspiration, Ausbildung von Hämatomen, Ausfall motorischer Nerven (besonders dramatisch des N. facialis), ferner der Ausfall sensibler Nerven11. Seit 2013 sind die (zahnärztlichen) Aufklärungspflichten in § 630e BGB normiert. Danach ist der behandelnde Arzt verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Zum Aufklärungsvolumen gehören Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Reaktionen der Maßnahmen sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. § 630e Abs. 1 S. 3 BGB wörtlich: „Bei der Aufklärung ist auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.“ Heruntergebrochen auf die intraligamentäre Anästhesie in der Zahnheilkunde gilt zunächst, dass es sich hier um eine seit langem etablierte Methode mit mannigfaltigen Vorteilen handelt12. Die Autoren Benz/Prothmann/Taubenheim a.a.O. haben in den Jahren 1920 bis 2014 mehr als 200 wissenschaftlich relevante Quellen gefunden, die die intraligamentäre Anästhesie als primäre Methode der dentalen Lokalanästhesie rechtfertigen. Von diesen 200 wissenschaftlich relevanten Quellen sind allein 70 Fachbeiträge seit 2004 in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften international publiziert worden. Dabei darf der haftungsrechtliche Aspekt nicht unterschätzt werden. Der Erfolg der intraligamentären Anästhesie (abgekürzt: ILA) hängt maßgeblich von den Verwendern, dem Stand der Medizintechnik entsprechenden Instrumentarien, der Applikation bewährter Anästhetika (mit Adrenalin) und der sicheren Beherrschung dieser bisher nicht systematisch gelehrten Lokalanästhesie-Methode ab. Wenn diese Kriterien erfüllt sind, treten offensichtlich kaum iantrogene Nebenwirkungen wie Elongationsgefühl, Druckschmerz oder Vorkontakt nach Abklingen der Analgesie oder auch reversible Drucknekrosen auf. Damit gibt es keinen vertretbaren Grund mehr, die intraligamentäre Anästhesie nicht in der täglichen Praxis als primäre Methode der Lokalanästhesie auch für die Schmerzausschaltung von zahnerhaltenden endodontischen oder parodontologischen Therapien einzusetzen.






Fußnotennachweise

 


1 vom 04.06.2003/24.09.2003, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2003, 24 966, zuletzt geändert am 01.03.2006, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2006, Seite 4466
2 G-BA zu B.III.7
3 B.IV.6 mit Protokollnotiz des Bundesausschusses: „Eine zentrale Anästhesie (Narkose) oder Analgosedierung gehört dann zur Leistungspflicht der GKV, wenn im Zusammenhang mit zahnärztlichen Leistungen eine andere Art der Schmerzausschaltung nicht möglich ist. Die Leistung ist im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung zu erbringen.“
4 VersR 2012, 1193 bis 1197
5 VersR 2013, 549 bis 552
6 Urteil vom 03.07.2013 zu 7 U 143/12; zitiert nach juris.de
7 Urteil vom 13.01.2014 zu 5 U 66/10; zitiert nach juris.de
8 Urteil vom 13.08.2014 zu 5 U 104/13; zitiert nach juris.de
9 Urteil vom 14.09.2016 zu 3 U 753/13; zitiert nach juris.de
10 Urteil vom 19.04.2016 zu 26 U 199/15
11 Oexmann/Georg, Die zivilrechtliche Haftung des Zahnarztes, Düsseldorf 1989, Rn. 65 und 86 mit Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen
12 dazu Glockmann/Taubenheim, Die intraligamentäre Anästhesie, Stuttgart 2002, passim; ferner Benz/Prothmann/Taubenheim, Die intraligamentäre Anästhesie, Köln 2015, passim